Di|as de los mu|er|tos [:celebrate]

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Seit unserer Ankunft in Mexiko begegnen wir ihnen allerorts: Skeletten und Totenköpfen. In unserer Kultur verbinden wir damit zumeist Grusel oder Schauer. Viele bekommen auch Angst oder sind in Schrecken versetzt. Nicht umsonst sind auf Piratenflaggen oder auf lebensbedrohlichen Mitteln Totenköpfe abgedruckt. Und in keiner Geisterbahn fehlen diese Gänsehaut-Garanten. „Dias de los muertos“ – Tag der Toten. Wer bist Du?

Was fühle ich hier in Mexiko? Welche Fragen stelle ich mir beim Anblick all dieser Todeszeichen? Was ist das für ein Land, das Tote feiert?

Zunächst: Hier muten die Knochengewerke anders an. Aus Kunststoff, Holz, Metall oder Pappmaschee bestehen diese Skelette. Oftmals sind sie verziert mit schöner Kleidung oder Accesoires. In Bäckereien und Supermärkten finden sich Totenköpfe in Kuchenform, aus Marzipan und wunderschön gekrönt mit Smarties oder Streuseln wieder. Girlanden mit der Aufschrift „Dias de los muertos“ zieren die Decken. Mein erster Gedanke war: „Paradox!“ Und dass ich mehr wissen will über diesen Tag.

Gefeiert wird am 1. November. Gemäß unserem Kalender ist das Allerheiligen, ein nationaler Feiertag. Außerhalb der Kirche wird dieser Tag in Deutschland jedoch nicht außergewöhnlich zelebriert. Zumindest nicht mit Blick auf Mexiko. Dort ist es der höchste Feiertag. Gleichzeitig hat er neben dem kollektiven, nach außen stark wirkenden Charakter für jeden einzelnen eine sehr persönliche Bedeutung.

Was heißt das? – Die Toten werden ordentlich gefeiert. Mit Tacos und Tequila zum Beispiel. „Eine Nation feiert ihre Toten mit Tacos und Tequila?!“, frage ich alle Mexikaner, die ich hier bisher kennenlernen durfte. „Wie verbringt ihr diesen Tag genau?“, will ich wissen. Und bin sehr fasziniert über den hießigen Umgang mit dem Tod.

Warum? – Freunde und Familie der verstorbenen Person kommen zusammen. Man kocht auf, was der Verstorbene gerne gegessen hat. Man hebt ein Glas nach dem anderen auf den Toten. Zumeist vor einem schönen Bildnis. Um dieses legen die Bekannten und Verwandten Lieblingskleidungs- oder Schmuckstücke, vielleicht auch Zigarren oder eine Lieblings-CD. Dann haben sie eine gute Zeit mit Anekdoten und Geschichten, bis alle feucht-fröhlich zum Tanzen und Feiern gehen. Bis tief durch die Geisterstunde verbringt man gemeinsam Tag und Nacht. Anstelle von Frust mit Freude. Es ist eine tiefe Verbindung, die zu den Verstorbenen gepflegt wird. Man macht sich seiner Wurzeln bewusst, geht aktiv mit dem Thema Tod um.

Ich bin gerührt, über das, was aus den Mündern meiner mexikanischen Gesprächspartner kommt. Ich erkläre, dass bei uns der Tod oftmals eher ein Tabu-Thema ist. Viele trauen sich schon von sich aus nicht, über die Verstorbenen zu reden. Vielleicht aus Angst, andere zu belasten. Vielleicht voller Bedenken, selbst zu instabil zu werden…

„Es ist schade.“, denke ich, als ich vor ein paar Tagen am Strand sitze und ihn durch meine Finger gleiten lasse. „Auch Sand ist Element von längst abgetragenen Knochen, Kadavern und einstmalig lebendigen Küsten. In der Luft, mit der wir unsere Lungen füllen, steckt der letzte Lebensatem unserer Vorfahren. Und wir tragen das Blut unserer Vorfahren in uns. Lassen wir sie in uns sterben, sterben auch wir ein kleines Stück. Ebenso ist es mit dem Verlust unserer Freunde. Schließlich sind wir ein Teil all derer, denen wir begegnet sind.“, schließt die Gedankenkette ab, bevor ich meinen Kopf ins erfrischende Blau stecke.

„In weniger als einer Woche ist dias de los muertos.“, geht es mir jetzt gerade durch den Kopf. Ich würde gerne meinen verstorbenen Großeltern gedenken. Doch ich weiß nichts über sie. Weder von väterlicher Seite. Sie waren bereits lange tot, bevor ich zur Welt kam. Noch über meinen Großvater mütterlicher Seite. Auch dieser war bereits tot, bevor er hätte meine Windeln wechseln können. Ich will mit meinen Eltern skypen, doch keiner ist online. Ich würde gerne etwas für meine Großeltern machen, etwas über sie erfahren.

„Warum ist das Thema Tod so heikel bei uns? Warum haben meine Eltern nie mit mir darüber gesprochen? Aber auch: Warum habe ich nicht nachgefragt?“ Ich lasse diese Fragen nun eben erstmal ohne meine gewünschten Gesprächspartner auf mich wirken.

Dann erinnere ich mich an eines der kürzlichen Gespräche mit Isabel aus Deutschland, die seit 2 Jahren in Guadalajara in Mexiko lebt und dias de los muertos schon gefeiert hat. Dabei fällt mir ein, dass ich jemandem gedenken kann…

Mit 15 Jahren verlor ich meine beste Freundin Christina Kircher. Wir waren in derselben Klasse und saßen natürlich nebeneinander. Wir schrieben gerade einen Lateintest, als sie plötzlich aus dem Klassenzimmer rannte. Die Lehrerin schickte mich als Vertrauensperson hinterher. Als ich sie draußen fand, hielt sie sich nur die Augen und meinte panisch, dass sie nicht mehr richtig sehen könne. Ich brachte sie nach Hause. Wir vermuteten, dass sie das Wochenende so viel geweint hatte, dass ihre Augen zu überanstrengt waren. Zwei Tage zuvor verstarb ihre Großmutter, was sie schmerzlich versuchte zu verdauen.

Als es bis zum Abend nicht besser wurde, kam sie in die Kopfklinik. Es hieß dann erst, man habe Verdacht auf eine Hirnhautentzündung. Nach einer weiteren Woche hieß es Krebs. Im Gehirn. So groß, dass er bereits aufs Sehzentrum drückt. Etwa ein Jahr verging. Ich machte ihr Videos, Pakete, Briefe, um sie teilhaben zu lassen an dem, wohin sie zurück kommen würde. Doch sie kam nicht.

Nie wieder.

Ich weiß noch, wie mich ihre große Schwester anrief, um es mir zu sagen. Ich war wie versteinert. Und heulte nur noch Schluchz und Wasser, zitterte am ganzen Körper. Mein Papa ging schließlich mit mir zur Beerdigung. Zum Leichenschmauß hatte ich mich noch nicht einmal mehr getraut. Ich konnte es nicht glauben. Ich fühlte mich allein. Wechselte bereits während ihrer Chemo-Therapie die Schule. War die Meisterin der Weltenflucht. Beim Namen! Schule interessierte mich nicht mehr. Hausaufgaben schrieb ich vor Unterrichtsbeginn irgendwo ab. Ich hörte auf zu Tanzen (mein langjähriges Hobby) und begann in einer Bar einen Nebenjob. Jeglich vertrautes soziales Umfeld reduzierte ich nahezu auf Null und schaute, dass ich viel mit neuen Menschen zu tun hatte.

Zur selben Zeit ereignete sich der „Beziehungstod“ meiner Eltern. Es war bereits ein langsames Sterben über Jahre hinweg und mündete schließlich in just den selben Zeitraum. Und da Scheidungen bekanntlich kein Schnäppchen sind, tat ich es gut mit meinem Nebenverdienst. Direkt nach der Schule arbeiten zu gehen, war ein sehr geeignetes Mittel in jeder Hinsicht. Vor allem aber, um der ängstlichen Stimme in mir den Mund zu verbieten. Ich wollte nicht hören, wie sie sagt, dass sie Verlustangst und Sehnsucht hat. Mal war mir das bewusster. Mal weniger bewusst. Klar war mir: Ich will diesen stechenden Schmerz nicht mehr in meiner Brust spüren. Was mir nicht klar war: Zeit heilt nicht alle Wunden. Zumindest nicht jene, die viel Pflege benötigen. Doch mir fehlte ein Zugang, damit umzugehen.

Das Leben wollte es dann so, dass ich fortan viele Freundinnen kennenlernte, die im Alter zwischen 10 und 27 Jahren – sehr früh – ihre Mutter verloren haben. Es war wie ein Leitthema. Bis auf eine Freundin, ging keine einzige bewusst mit diesem Thema um. Sehr selten nur, sprachen wir über ihre Mütter. Meinen Verlust erwähnte ich auch eher nur, als wirklich drüber zu sprechen. Meist eben in einer Tiefe, aus der man mit einem Armzug wieder an der Oberfläche sein konnte.

Warum?

…Weil wir immer Tränen in den Augen haben? Stets an die letzte, meist leidensvolle Zeit denken? Oder daran denken, wie ungerecht es ist? Oder was wir gerne noch gemeinsam erlebt hätten? Uns irgendwie alleine fühlen, trotz, dass man vielleicht auch gemeinsam darüber spricht? – Mit Sicherheit auch deshalb. Zumindest ist das bei mir oft so gewesen.

Doch wie wäre es, sich nicht gleich vermeintlich an die Oberfläche zu retten? Den Schmerz zu umarmen? Einzuatmen und zu wissen, in dieser Luft ist auch der Atem unserer geliebten Menschen? Die von uns gegangen sind, aber auch derer, die noch leben. In diesem Bewusstsein zu sagen: Ich bin nicht allein. Jetzt tue ich das, was Du immer gerne hattest. Oder in bestimmten oder unbestimmten Momenten einzuatmen und zu sagen: Schau her, ich denk an Dich, Du bist dabei! Mir wärmt dieser Gedanke das Herz. Und während ich tippe, stelle ich mir vor, wie sehr sich Christina darüber freut.

Nun schließt sich für mich der Kreis, weshalb Mexiko vermutlich ein bisschen unbekümmerter, verrückter und ausgelassener ist. Vielleicht wissen sie nicht nur, irgendwann ist Schicht im Schacht. Denn das wissen wir alle. Vielleicht sind sie sich dessen wegen dias de los muertos bewusster. Schließlich führen sie sich die leibliche Endlichkeit jedes Jahr mindestens einmal intensiv vor Augen. Und nehmen als Konsequenz, das Leben als Geschenk zu feiern. Und laden einmal im Jahr ganz bewusst ihre Verstorbenen ein, als Geist zurück nach Hause zu kommen.

Obgleich ich ein positiv denkender Mensch bin, habe ich auch so meine Hänger. Auch nach einem Schweigeretreat in Taize. Auch nach dem zu Fuß bestrittenen Jakobsweg. Auch nach diversen Retreats in einem buddhistischen Kloster. Und natürlich auch auf dieser Reise. Meine Sammlung der Lieblingsanekdoten dazu will ich auch noch über die Tastatur lassen. Aber in einem anderen Bericht. Was mich diese Reise mal wieder eindrücklich gelehrt hat und zum Abschluss dieses Artikels: Das Leben ist Balance. Das Angenehme und Gute besteht IMMER genauso wie das Unangenehme und Ungute. Es ist ein Prozess und unsere Aufgabe besteht darin, es so zu belassen oder aufzulösen, dass wir zufrieden sind. Dabei denke ich oft an das Gebet, über Mut, Gelassenheit und Weisheit. Dass ich Hilfe erbitte um Mut, um Dinge zu ändern, wenn ich sie ändern kann. Gelassenheit erbitte, um Dinge hinzunehmen, wenn ich sie nicht ändern kann. Und um Weisheit, um zwischen beiden zu unterscheiden.

Das Leben ist Balance. Das leibliche Dasein mit all seinem Leid und den Genüssen ist begrenzt. Nichts ist beständig. Leben kommt, Leben geht. Das können wir nicht ändern. Deshalb brauchen wir Gelassenheit. Nicht immer im Sinne von „gechillt sein“. Oft auch im Sinne von „loslassen“. Und zwar die Angst und das Leid. Dass wieder Raum ist für Freude. Es ist ein Prozess. Es ist für mich ein Prozess. Das erkannt zu haben, werde ich am 1. November ganz besonders feiern. Und zwar in Mexiko City.

Das Leben ist ein Schatz. Dein ganz persönlicher. Mein ganz persönlicher. Ich will die Truhe füllen mit Zufriedenheit. Und dies allein liegt in mir, nur ich habe den Schlüssel für das Schloss. Welcher Tag wäre zu wenig in Deinem Leben oder im Leben einer anderen Person, wenn die Kiste voll damit ist? Du hast den Schlüssel, Du hast die Truhe. Du hast alles. Jetzt und hier.

Vielleicht schmeckt Dir Dein Brot heute besonders gut. Vielleicht lässt Du Fünfe heute einmal mehr gerade sein. Vielleicht isst Du heute etwas, was jemand Geliebtes, bereits von Dir Gegangenes gerne mochte und es nicht mehr essen kann. Weil Du LEBST! Lass uns am 1. November gemeinsam feiern. Egal wo auf der Welt. Und am besten lass uns in Situationen von Angst und Leid gegenseitig daran erinnern.

Das wünsch ich mir für Dich! Und für mich :-)

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Manu, ein wirklich sehr toller und inspirierender Text, den ich sehr gern gelesen habe und wo ich dir absolut recht gebe!

  2. Meine Liebe,

    ich bin baff. Da sitze ich im Büro und habe gerade deine tolle Karte bekommen :) *freu* und lese deinen gänsehauterweckenden Text! Ich freue mich irre für dich/euch, dass ihr eine Reise macht, die weit über das „wirklich begreifbare“ hinausgeht! Danke für das Teilhaben lassen!

  3. Hallo liebe Manu, lieber Simon,

    ich habe euren Text gerade gelesen und bin richtig gerührt!
    Es gibt wirklich keine Zufälle, denn gerade eben dachte ich an meinen Opa, der letztes Jahr an Krebs verstarb und nun finde ich durch einen Klick diesen Text, der mir ein richtiges Lächeln ins Gesicht zaubert. Danke für diese schönen Zeilen!
    Ich wünsche euch weiterhin viele tolle Begegnungen und eine schöne Zeit auf eurer Reise!
    Passt auf euch auf!
    Hannah

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