24 Stun|den|fahrt mit der Ti|bet|pa|no|ra|ma|bahn [:on the way]

Wir können es kaum erwarten, dass das Kalenderblatt den 17. Mai 2013 anzeigt. Darauf sind unsere Fahrscheine von Xining nach Lhasa datiert. Eine – planmäßig – 23 stündige Reise steht an. Für unsere letzte Zugfahrt durch China haben wir uns für Softsleeper Tickets entschieden, um unserere Erfahrungsliste „Zugklassen in China“ zu komplettieren. Unseren Recherchen nach kostet die Zugfahrt 85 Euro pro Person. Die Agentur, die wir für die anstehende Trekking- und Kulturreise von Lhasa bis nach Kathmandu gebucht haben bietet uns an, die Tickets zu besorgen. Satte 195 US Dollar verlangen sie für EIN Ticket. Als wir sie darauf ansprechen, erhalten wir eine Antwort, über die wir nicht schlecht staunen. Deren Angabe nach sei es sehr schwierig für diese Strecke Tickets zu erwerben. Die Nachfrage sei wesentlich höher als das verfügbare Angebot. Daraus resultiert ein hoher Preis. So viel habe ich in den VWL-Vorlesungen über knappe Güter auch schon gelernt. Was ich dort nicht gelernt habe: Die Agentur zahle deshalb ein Bestechungsgeld, um diese begehrten Tickets zu ergattern. Viele Fahrgäste würden den Softsleeper speziell bei dieser Fahrt wollen. „Weshalb?“ wollen wir natürlich genauer wissen. Und prompt parliert der Chinese an der anderen Hörerseite die Gründe: Zum einen sei es im Softsleeper sicherer. Die Wagen dieser Klasse seien von den anderen isoliert und personell sehr gut besetzt (Service- und Wachpersonal). Auf dieser Strecke gäbe es nicht selten Fälle von Diebstählen. Des Weiteren sei das Verhältnis Toilette und Fahrgäste besser situiert. Das könnte im Falle der sogenannten Höhenkrankheit ein Segen sein. Diese begänne ab 2000 Metern über dem Meeresspiegel und wir führen bis zu 5000 Metern. Der letzte Punkt – jeweils 4 Betten befänden sich in einem verschließbaren Abteil, was zu mehr Nachtruhe führen könne. Das könne empfehlenswert sein, da die Fahrt ohnehin körperlich viel erfordern könne. 

In vielem sollte die Agentur recht behalten. Ob wir eine unverschämte Summe an Servicegeld gezahlt haben oder ob es tatsächlich Gang und Gebe ist, Bestechungsgelder – für mich in meiner kleinen heilen Welt kaum vorstellbar – zu zahlen, wissen wir bis heute nicht. Ein Reisebericht über die längste kurzweilige Zugfahrt unseres Lebens.

Xining Bahnhof. 13:45 Uhr. Hitze. Das Gelände wirkt trist. Die umherschweifenden Menschen haben einen Hauch von Verzweiflung und Verbrechen im Gesicht. Die zielorientierten, offensichtlich Reisenden hasten eilig zu den verschiedenen Eingängen des Bahnhofgebäudes. Wir stehen außerhalb vor einem Plan und warten auf unseren Guide. Der Plan lässt uns schnell erschließen, dass wir einen separaten Eingang mit eigener Wartehalle für die Fahrt per Softsleeper haben. Der erste Unterschied zu den riesigen Wartehallen, die wir bisher kennengelernt haben.

14:00 Uhr. Der Guide kommt pünktlich an und entpuppt sich als eine 1 Minuten-Begegnung. Er begrüßt uns mit der Frage, ob wir die Tickets erhalten, die Papiere parat haben und verabschiedet sich mit der Information, dass wir in Lhasa von einem englisch sprechenden Guide vom Bahnhof abgeholt würden.

Wir müssen lachen, dass das alles war. Denn hier wurde der Begriff „Begleitung bei der Zugfahrt“ als gebuchte Dienstleistung auf das Unfassbarste gedehnt. Jetzt nicht ärgern! Ab in die Wartehalle. Einlass in diese erhält offensichtlich nur, wer auch ein offizielles Fahrticket, seinen Reisepass und eine offizielle Einreisegenehmigung nach Tibet vorweisen kann. Strenge Augenpaare prüfen unsere Dokumente detailgetreu und gewähren uns schließlich Einlass. Dort erfolgt ein weiterer Check der Papiere, bei dem wir genau mit den Fotos auf unseren Pässen kritisch verglichen werden. Dann werden unsere Backpacks gescannt und wir abgetastet. Bei diesem mechanisch durchgeführtem Prozedere von gefühlskalt wirkenden Chinesen fühlt man sich nicht besonders wohl. Doch ist man erst einmal durch die Kontrollen durch, setzt ein Anflug von der Idee ein, dass sie das Thema Sicherheit nach bestem Wissen und Gewissen im Griff haben. Mit verschmitztem Lächeln zückt Simon dann jedoch schließlich sein Taschenmesser aus dem Hosenbein….Ich halte das für einen seltenen Zufall.

Am Ende der Kontrolle treffen wir auf eine Schweizer Reisegruppe, 12 Personen. Dass diese die Softsleeperabteile neben uns gebucht haben, bekommen wir schnell in einem Gespräch mit Urs heraus. Er spricht uns gleich an, als wir die Rucksäcke wieder gesattelt haben. Da wir unplanmäßig noch ohne Guide unterwegs sind und die Gruppe von einem deutsch sprechenden Chinesen namens Hui geführt wird, halten wir uns an diese.

Das nächste Novum: Wir dürfen bereits 45 Minuten vor Abfahrt gemütlich und gedrängefrei direkt zu unserem Abteil losgehen. Weitere zwei Kontrollen erfolgen bis wir den Boden des Zugs betreten. Diesmal von sehr freundlich-charmant und serviceorientiert wirkenden Chinesinnen. Was eine rote Uniform, Haare adrett zu einem Dutt gebunden, gezierte Wimpernwellen und verzaubernder Kajal auf Augenlidern gepaart mit einem warmen Lächeln nicht alles bewirken können! Wir warten einen Moment bis wir unser Abteil erreichen. Denn die Damen und Herren der Generation Silversurfer aus der Schweizer Reisegruppe bekommen ihre großen Reisekoffer nicht recht verstaut. Daher blockieren sie für ein paar Minuten den Gang. Doch Personal eilt schnell zur Hilfe und unterstützt in der Sache.

Jetzt richten wir uns in unserem Abteil ein: Backpacks hoch über die Schiebetüre, Reiseapotheke und Hygieneartikel draußen lassen, Provianttüte unter den Tisch. Ein junger Japaner auf Reisen und ein junger Chinese, geschäftlich unterwegs, haben die beiden Betten uns gegenüber und tun es uns gleich. Beide sind sehr freundlich, hilfsbereit und englisch sprechend. Es fühlt sich gut an, mit ihnen im Abteil zu sein. Wir unterhalten uns ein bisschen, lachen gemeinsam, werden beneidet und beglückwünscht zu Mut und Möglichkeit einer solchen Reise. Wir bewundern die beiden im Gegenzug für ihr Ausdauervermögen und ihre Wissbegierigkeit.

Wir finden heraus, dass der Chinese nur 10 Stunden mitfährt und sein Ticket direkt vor der Abfahrt gekauft hat. Wir ärgern uns still über die Agentur, da wir zu zweifeln beginnen ob das mit dem Bestechungsgeld wahr ist. Der Chinese fährt jedoch fort, dass er damit Glück hatte, so kurzfristig ein Ticket zu erhaschen. Das sei ungewöhnlich. Die Skepsis nimmt das jedoch nicht ganz.

Der Japaner ist mit seinen Kumpels aus dem Nebenabteil für eine Sightseeingtour nach Lhasa unterwegs. Er fasziniert uns: Ein gesunder Körperbau, achtsame Bewegungen, ordentlicher kleiner Koffer, ästhetisches, künstlerisch angehauchtes Hemd angezogen und das zum Wechseln schon bereit gehängt, ein authentisches offenes Lächeln, eine angenehme Art. Er erzählt ein wenig über Japan und wir sind gefangen von den Worten.

15:05 Uhr. Wir rollen Sekunden genau los. Kurz darauf klopft es am Abteil. Es werden Einverständniserklärungen ausgeteilt. Wir unterzeichnen dafür, dass wir gesundheitlich in guter Verfassung sind und in dem Wissen mitfahren, dass es zu einer Höhenkrankheit kommen kann. Dass im Notfall Sauerstoff in den Kabinen verfügbar ist, die Chinesische Bahn allerdings nicht haftbar ist für gesundheitliche Probleme. Dann werden die Fahrkarten eingesammelt und gegen Plastik-Checkkarten eingetauscht.

Wir essen erste Portionen unseres Proviants und freuen uns wie kleine Kinder. Dann sucht sich jeder sein Plätzchen und hängt mit der immer natürlicher werdenden Landschaft seinen Gedanken nach. Während sich Simon ausmalt, wie verrückt es ist, in einigen Tagen den Fuß des Mount Everest Base Camps zu betreten, flüstere ich mir den Namen unseres Zielorts vor: „Tiiibett“. Der pure Klang des Namens löst bei mir etwas tief Eindringendes im „Tiii“, etwas Weiches im darauf folgenden „B“, zudem sich die Lippen vorsichtig für einen Moment aufeinaderlegen, etwas Bestimmtes durch das hart endende „ett“ aus. Nach endlos erscheinenden Mega-Cities und der unfertigen, ausgestorben anmutenden Stadt Xining, ist das Eindringen in die unberührte Natur ein wahrhaftiger Seelenstreichler.

Stundenlang sitzen wir wie vor einem Aquarium und bewundern die ziehende Landschaft. Die Sonne küsst die Gräser, lässt sie eintauchen in eine sanfte Farbe. Wolken formen und lösen sich gemächlich. Ein Wechselspiel von puren satten Farben der kristallklaren Bergseen und malerisch prächtigen Bergwelten. Reinheit, Ruhe, Freiheit erstreckt sich in den Weiten. Keine Menschenseele über Stunden hinweg zu sehen. Die Zeit steht still. Alles HIER, alles JETZT.

Dann wird es etwas lauter im Zug. Das chinesische Fernsehen besucht unser Nachbarabteil für ein Interview. Denn gerade passieren wir die Vogelinsel. Ein schöner Hingucker! Wir erhalten im Interview Auskunft darüber, dass dort viele Vögel brüten und sehr viele Jungvögel gerade erste Flugversuche starten. Vielleicht waren wir im chinesischen Fernsehen zu sehen. Wer weiß…

Der weitere Teil der Fahrt war gezeichnet von Gesprächen mit Urs, der immer wieder zu einem Whiskey eingeladen hat. So verlockend das Ganze war, habe ich ihn stets vertröstet. Ich möge das lieber nicht, da ich nicht wüsste, wie ich auf der Höhe darauf reagiere. Aber Simon wolle gewiss. Nur war er jedes Mal unterwegs, wenn Urs gerade zu Besuch kam. Das war wirklich Comedy!

Schließlich schickte ich Urs Simon hinterher und die beiden hatten eine gute, gesellige Zeit. Ich bekam gar nicht mehr mit, wann Simon wieder da war. Ich fiel bereits in einen tiefen, festen und sehr erholsamen Schlaf. Am nächsten Morgen fühle ich mich gut und schmunzle, da der Schlaf gut, durchgängig und friedlich war. Das hätte ich nie gedacht! Als ich nach Simon schaue, geht es ihm nicht ganz so gut. Er hat einen starken Druck auf dem Kopf und etwas Magenweh. Nicht von der Sorte Kater.

Ihm fehlt Sauerstoff. Als ich mich nach der Höhe erkundige, liegen wir bei 4700 Metern. Daher war das nichts Unübliches. Eine Schweizerin war auch schon ordentlich am Spucken und bekam Sauerstoff, in drei weiteren Kabinen blies es ebenfalls schon Sauerstoff ein. Simon bekommt von mir ein paar Mal naturheilpflanzliche Medikamente gegen gefäßbedingte Kopfschmerzen, sanfte Kopfmassagen und die ständige Aufforderung mehr zu trinken (ich würde mich selbst unglaublich damit nerven, da bin ich oberfürsorglich). Präventiv mache ich mit. Das motivierte ihn, die stark nach Eisen schmeckenden Lutschtabletten einzunehmen. Als ich ihm eine Suppe aufkochen will (heißes Wasser bekommt man hier an jedem Gangende), verstehen wir umso besser, was gerade mit seinem Körper passiert.

Die Suppentüte stand kurz vor dem Platzen. Die Verpackung war aufgebläht wie ein überfüllter Luftballon. Die lieben Naturgesetzte setzen auch in der ersten Klasse nicht aus. Aber es ist gut, in Ruhe liegen zu können. Sehr sogar. Ich bewege mich die nächsten Stunden kaum, außer um nach Simon zu schauen, zu trinken und für Gänge zur Toilette. Diese sind im Vergleich zu den anderen Klassen einfach in einem unfassbar sauberen und geruchsneutralen Zustand. Es gibt sogar eine westliche Toilette, ein echter Luxus! Denn die Kniebeugeklos können für längere Geschäfte oder auch in Kurven zu einer echten Herausforderung werden.

Die letzten Stunden höre ich Musik und genieße weiter diese Traumwelt der Natur, die sich durch die Fenster zeigt. Ich bin dankbar in einer guten Verfassung zu sein und bete für Simon, dass es ihm bald besser geht.

Obgleich wir mit einer Stunde Verspätung und damit genau nach 24 Stunden in Lhasa einfahren, kam mir die Zugfahrt viel kürzer vor. Die Aufregung steigt, als wir ein Team aus 20 Bahnangestellten am Gleis zum Willkommen heißen salutieren sehen.

Die Backpacks auf, betreten wir das erste Mal den Boden Lhasas. Es ist heiß, die Sonne strahlt, wir folgen der Menschenmenge ein erstes Stück und halten schließlich Ausschau nach unserem Guide. Ein unwohles Gefühl macht sich breit, als sich die Menge lichtet und kein Guide erkennbar ist. Immer mehr blitzt dafür Militär an den Ecken auf. Ich beschließe den Guide anzurufen, denn die Rufnummer gab uns die Agentur bereits. Weshalb so schnell anrufen –  man darf sich ohne Guide als Tourist in Lhasa  nicht aufhalten. Und das letzte, was wir hier wollen ist Ärger mit jemandem mit so einer Waffe, die ich nur aus Kriegsfilmen kenne…

Der Guide geht ans Telefon. Sein Englisch kann ich kaum verstehen. Ich hoffe noch, es läge an der Verbindung. Doch die Signalstärke zeigte volle Balken auf. Der Mann an der Leitung erklärt mir auf meine Frage hin, wo er sei, da wir ohne ihn nicht weiter dürften, dass er in der „Od sity“ wär und auf uns warte. Ich erkläre ihm zunächst ruhig, dass er bitte zur Bahnhofshalle kommen soll, da wir  keine Ahnung von Lhasa haben, Militär hier ist und wir kein chinesisch sprechen um uns in die „Old City“, also in die Altstadt Lhasas zu navigieren. Da er mir immer nur mit Yes! Yes! antwortet, aber nicht sagt, was wir tun sollen, bin ich mittlerweile etwas nervöser. Dass Simon in seiner körperlichen Verfassung das Ruder nicht übernehmen konnte, war auch klar. Wir beschließen also der Menschenmenge weiter hinterher zu tappeln, die mit Guide unterwegs ist, solange es geht.

Wir fühlen uns immernoch unbehaglich. Ich screene in meinem Kopf die verschiedenen Möglichkeiten, doch komme zu keinem befriedigenden Ergebnis. Denn das hier ist kein freier Aufenthaltsort. Es ist Lhasa. Hier gelten andere Regeln. Und manchmal kann die Regierung sehr eigenwillig sein, was die Einreise anbelangt.

Doch dann steht da ein ungefähr 40 Jahre alter Mann, schlank, dunkelrote Haut, tiefbraune Augen und strahlend weiße Zähne und hält ein krakelig beschriebenes, 80gr Papier in die Luft mit der Aufschrift „Cipa 2px“.

Plump! Da fällt ein gewaltiger Stein vom Herzen. Es ist unser Guide, dessen Englisch ist unfassbar suboptimal in der Aussprache, wie sich bald erschließt. Denn wer hätte verstehen können, dass er statt Old City, Outside gemeint hatte. Seine Aussprache war wie die eines jungen Kindes, das erste Leseversuche startet. Doch konnten wir ihm nicht böse sein. Seine Präsenz war herzlich und ehe er uns nach unseren Namen gefragt hat, hatten wir schon unseren ersten tibetischen Segen um den Hals hängen.

Jeder bekam einen weißen Schal von ihm umgehängt, den er zuvor hatte von einem buddhistischen Mönch segnen lassen für unsere Reise. Dann begleitet er uns zu unserem Jeep. Wir blicken entspannter zurück auf das Bahnhofsgebäude und danken der sengenden Sonne über uns für die längste, kurzweilige Zugfahrt unseres Lebens und die missverständlichste Ankunft, die wir je hatten und bereits im anrollenden Jeep aus ganzem Herzen belachen konnten.

Happy End!

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